Auf eine geheimnisvolle, rätselhafte, mystische Weise entsteht das wahre Kunstwerk aus dem Künstler. Von ihm losgelöst bekommt es ein selbständiges Leben, wird zur Persönlichkeit, zu einem selbständigen, geistig atmenden Subjekt, welches auch ein materiell reales Leben führt, welches ein Wesen ist. Es ist also nicht eine gleichgültig und zufällig entstandene Erscheinung, die auch gleichgültig in dem geistigen Leben weilt, sondern, wie jedes Wesen besitzt es weiterschaffenden, aktive Kräfte. Es lebt, wirkt und ist an der Schöpfung der besprochenen geistigen Atmosphäre tätig. Aus diesem innerlichen Standpunkte ist auch ausschließlich die Frage zu beantworten, ob das Werk gut oder schlecht ist. Wenn es „schlecht“ in der Form ist oder zu schwach, so ist diese Form schlecht oder schwach, um in jeder Art rein klingende Seelenvibrationen hervorzurufen. (…)
Die Malerei ist eine Kunst und die Kunst im ganzen ist nicht ein zweckloses Schaffen der Dinge, die im Leeren zerfließen, sondern eine Macht, die zweckvoll ist, und muss der Entwicklung und Verfeinerung der menschlichen Seelen dienen. Sie ist die Sprache, die in nur ihr eigener Form von Dingen zur Seele redet, die für die Seele das tägliche Brot sind, welches sie nur in dieser Form bekommen kann.
In erster Linie soll dann der Künstler die Lage zu ändern versuchen, dadurch, dass er seine Pflicht der Kunst und also auch sich gegenüber anerkennt und sich nicht als Herr der Lage betrachtet, sondern als Diener höherer Zwecke, dessen Pflichten präzis, groß und heilig sind. Er muss sich erziehen und vertiefen in die eigene Seele, diese eigene Seele vorerst pflegen und entwickeln, damit sein äußeres Talent etwas zu bekleiden hat und nicht, wie der verlorene Handschuh von einer unbekannten Hand, ein leerer zweckloser Schein einer Hand ist.
Der Künstler muss etwas zu sagen haben, da nicht die Beherrschung der Form seine Aufgabe ist, sondern das Anpassen dieser Form dem Inhalt.
Der Künstler ist kein Sonntagskind des Lebens: Er hat kein Recht, pflichtlos zu leben, er hat eine schwere Arbeit zu verrichten, die oft zu seinem Kreuz wird. Er muss wissen, dass jede seiner Taten, Gefühle, Gedanken das feine unbetastbare, aber feste Material bilden, woraus seine Werke entstehen, und dass er deswegen im Leben nicht frei ist, sondern nur in der Kunst.
Und daraus geht von selbst hervor, dass der Künstler dreifach verantwortlich ist:
- er muss sein ihm gegebenes Talent wieder erstatten.
- seine Taten, Gedanken, Gefühle -wie die jedes Menschen- bilden die geistige Atmosphäre, so dass sie die geistige Luft verklären oder verpesten.
- diese Taten, Gedanken, Gefühle sind das Material zu seinen Schöpfungen, welche noch einmal wieder an der geistigen Atmosphäre tätig sind.
Er (der Künstler) ist nicht nur „König“ in dem Sinne, dass er die große Macht hat, sondern auch in dem Sinne, dass auch seine Plicht groß ist.
Wassily Kandinsky Über das Geistige in der Kunst, 1912 in München